Herzensohren

(Entwurf Radioandacht MDR)
Ein weißer Mann war mit einem Indianer befreundet. Einmal besuchte der Indianer seinen Freund in der Großstadt. Als sie eine stark befahrene Straße entlang gingen, bemerkte der Indianer: «Hörst du auch, was ich höre?» – «Was soll ich schon hören bei diesem Verkehrslärm», entgegnete der Freund. «Ich höre eine Grille zirpen», beharrte der Indianer. «Du kannst doch unmöglich eine Grille zirpen hören – bei diesem Lärm!» Der Indianer trat zur Seite, lauschte eine Weile, schob dann ein Weinrankenblatt zur Seite; und siehe da: Eine Grille hockte an der Hauswand und zirpte ihr Lied. «Ihr Indianer habt halt ein besseres Gehör als wir Weißen», versuchte sich der Freund herauszureden. «Das stimmt nicht, ihr hört so gut wie wir Indianer. Soll ich ́s dir beweisen?» Der Indianer nahm eine Münze aus der Tasche und warf sie auf den Gehsteig. Obwohl sie kein lauteres Geräusch machte als die zirpende Grille, drehten sich zwei, drei Passanten suchend um. «Siehst du», erklärte der Indianer, «ihr hört genauso gut wie wir; doch jeder nimmt nur das wahr, worauf sein Herz gerichtet ist.»

Es stimmt: Wir haben Ohren des Herzens. Ich richte mich auf etwas aus und in diese Richtung wachsen dann sensiblere Antennen. An anderer, vernachlässigter Stelle verkümmern sie und werden unempfindlicher. Wir werden sensibler für das, ja wir verwandeln uns mehr und mehr in das, auf das wir uns ausrichten. Wenn Sie also meinen, zum Beispiel Gott nicht wahrzunehmen, könnte das auch schlicht daran liegen, dass sie sich lange nicht mehr oder noch nie auf ihn ausgerichtet haben. Für eine Neuausrichtung – ist es nie zu spät.