Ein sperriger Brühwürfel, von dem man lange etwas hat: Die Gnade allein – was bedeutet das heute und wie bringen wir es den Menschen? Gedanken von Andreas Malessa.

Andreas Malessa zu „solus christus“ und „sola gratia“. Das war für mich der Höhepunkt auf der diesjährigen Pastorentagung des Bundes FeG auf Langeoog. Ich habe die Vorträge streng subjektiv zusammengefasst für die Zeitschrift „Christsein Heute“, für die ich gerne Werbung hier mache! Los geht’s!
007-andreas-malessaIn jüdischen Lehrhäusern lernen Toraschüler auf eine bemerkenswerte Weise, der so genannten chevruta. Das ist eine Partnerarbeit, in der sich jeweils zwei Schüler an einem Pult gegenüber sitzen und sich kontrovers bis hin zu lautstark über ihre Entdeckungen in Talmud und Tora streiten. Das Ziel ist dabei Erkenntnisgewinn und Lösung von komplexen theologischen Problemen. Diese Vorgehensweise scheint uns im Zeitalter der politischen Korrektheit und dem dualistischen Schwarzweißdenken undenkbar. Aber ja: Man kann sich fetzten und dennoch wertschätzen und mögen.

Andreas Malessa ist ein Redner, der sich mit seiner wortgewandten und pointierten (manchmal scharf geschliffenen) Art in Rhetorik und Inhalt auf die eine Seite des Pultes setzt. Die Frage ist nur: Hält man es aus, sich auf die andere Seite zu setzen? Oder beginnen direkt die Schubladen aufzugehen, mit denen man ihn als gut oder nicht gut einordnet? Ich habe mich sehr auf ihn gefreut – und wurde nicht enttäuscht, auch und gerade weil mich manche seiner Aussagen noch immer begleiten und sich in mir am bereits Vorhandenen reiben.

Solus christus
Solus Christus und Sola Gratia – das sind die beiden ersten Exklusivpartikel Luthers: allein Christus – allein die Gnade. In der Ausschließlichkeit radikale Bekenntnisse, ein Ärgernis in postmoderner Zeit. Malessa leitet ein, indem er „konzentrierte Brühwürfel“ aus der Kirchengeschichte und Wirkungsgeschichte dieser beiden Begriffe bietet. Jeder, der einmal einen Brühwürfel in den Mund genommen hat, weiß um dessen Geschmack – der herrliche Ritt durch die Jahreszahlen und Entwicklungslinien – der ist in meinem Artikel (leider) nicht wiederholbar! Deswegen beschränke ich mich ganz subjektiv auf das, was sich bei mir festgehakt hat, denn es ging und geht ja nicht primär um einen kirchengeschichtlichen Exkurs, sondern um die große Frage: Was machen wir damit heute und wenn ja, wie?

Gott eine Art himmlisches Neuschwanstein?
Malessa bietet zu jedem Exklusivpartikel eine farbige Beschreibung der Lebenswelt zur Zeit Luthers – das fasziniert! Luther geht von der Erbsündenlehre Augustins aus und flüchtet vor einem Gott, der im Fegefeuer schmoren lässt (pro Sündentag ein Jahr Fegefeuer) ausgerechnet ins Augustinerkloster. In einer Zeit, in der Jesus neben Maria und den Heiligen steht und die „imitatio dei“ (Nachahmung Gottes) im wesentlichen Teilhabe am Leiden Jesu bedeutet – von der befreienden Kraft des Evangeliums keine Spur. Die eigentlichen Lehren Jesus sind nicht relevanter als die kirchliche Tradition. Das Papsttum ist protzig, kriegslüstern und Luther findet sich wieder in einem fatalen Kreislauf aus Askese, Beichte und Bitterkeit. Verzweiflung atmet dieses Bild. Mich hat die plastische Schilderung der Lebenswelt Luthers in ihrer Dichte neu gepackt. Die Not, mit einem solchen Gott auskommen zu müssen. Die Befreiung durch das Evangelium, die man nur erahnen kann. Malessa stellt auf diesem Hintergrund allerdings kritische Fragen: Wo ist unsere Theologie des Leidens? Natürlich kann Gott nicht nur in Kreuz und Leiden gefunden werden, hier ist Luther auch Kind seiner Zeit, selbst nach seiner Entdeckung der Freiheit des Evangeliums. Aber viele heute gesungenen Lobpreislieder beschreiben, so Malessa, Gott als eine Art „himmlisches Neuschwanstein“. Leid komme da nicht mehr vor. So oder so eine Einseitigkeit im Gottesbild – die Wahrheit liegt wohl in der Spannung zwischen beiden Polen. Malessa schließt den ersten Teil mit einem herrlichen Bild für das solus Christus in der legendären Lutherschrift über die „Freiheit des Christenmenschen“. Wir Menschen sind Waggons eines Zuges auf dem Weg durch einen langen dunklen Tunnel. Am Ende wartet ein helles Licht, aber das kann manchmal im Leid auf sich warten lassen und niemand kann wissen, was einen dort erwartet. Im Tunnel kommt es dabei aber nicht auf mich Menschen an – sondern einzig und allein auf die Kopplung an die Lok, Jesus Christus zieht durch das Dunkel hindurch.

sola gratia
Das sola gratia entwickelt sich dann für mich zum Höhepunkt der ganzen Tagung, der mich bis heute begleitet. Malessa steigt ein mit der dreifachen Vertrauenskrise gegenüber Anführern und Leitern, die etwas durchsetzen möchten. Aktueller denn je ist dieses Thema, aber auch in Bezug auf Gott hochspannend. Wenn ein Leiter etwas durchsetzen möchte, braucht er Machtmittel. Und eine Belohnung für Wohlverhalten bzw. Bestrafung für Fehlverhalten. Zu welchen Stufen der Vertrauenskrise kann es nun kommen? Sie beschreiben die Lebenswelt von Luther und das damalig vorherrschende Gottesbild:

  • Erste Stufe: Belohnung und Strafe werden nicht direkt gezeigt – kann der wirklich, was er ankündigt?
  • Zweite Stufe: Plötzlich wird der Gerechte bestraft und der Ungerechte belohnt (Hiob, Psalmen und Grundgefühl mancher Menschen in unserer Gesellschaft), die Autorität des Leiters bröckelt.
  • Dritte Stufe: Lohn und Strafe finden gar nicht mehr statt – sie werden ins Jenseits verlegt. Dann ist ihre (Nicht-)Existenz nicht mehr nachweisbar, doch irgendwann nutzt sich die Angst vor der Strafe im Jenseits ab und dann wird die Existenz des Anführers (Gott) angezweifelt.

Vor diesem Hintergrund stellt Luther ganz existenziell die Frage nach einem gnädigen Gott. Auch wenn Malessa das nicht direkt angesprochen hat, aber diese Eskalation von Vertrauenskrisen betrifft auch Gemeindesituationen. Wie leicht gerät man in Nuancen in der Gemeinde zu eben einem solchen Leitungsstil. Der nicht mehr von Gnade geprägt ist, sondern von Belohnung und Bestrafung sowie Leistungsdenken.

Gott ein harmloses Räuchermännchen
Und ein zweites spricht Malessa an: Wenn ich auf das Druck- und Bestrafungsszenario verzichte, wie kann ich denn heute überhaupt noch den gnädigen Gott in einer 008-andreas-malessa-2Gesellschaft vermitteln, die sich diese Frage gar nicht mehr stellt, weil Sünde und Schuld kein Thema sind. Die Hölle wieder anzuheizen im Gespräch mit Suchenden – das wäre ein Rückschritt in vergangene Zeiten. So sehr ich die Existenz einer Hölle biblisch begründet annehme, so wenig halte ich sie für hilfreich als Teil einer Botschaft des Evangeliums. Malessa spricht dieses Dilemma der Verkündigung und Vermittlung der Gnadenbotschaft schmerzend scharf an. Für die Menschen da draußen sei Gott so harmlos wie ein Räuchermännchen auf dem Weihnachtsmarkt und wir stünden mit unseren Ansichten da wie ein Schreibmaschinenverkäufer auf der CEBIT. Aber wie erreichen wir dann die Menschen, ohne neue Höllenszenarien heraus zu holen, … die vermutlich auch nicht ernst genommen würden?

Hölle heute
Malessa kommt zu folgendem hochspannenden Schluss: Man müsse den Leuten heute nicht mit der Hölle kommen – sie erlebten sie bereits. Die Angst vor eigenem Ungenügen sei heute noch krasser ausgeprägt als im 16. Jahrhundert. Die Multioptionsgesellschaft setze den ganz normalen Menschen unter enormen Rechtfertigungsdruck, warum er nicht die zig anderen Optionen gewählt habe! Wählst du A, musst du gleichzeitig plausibel erklären können, warum du dich nicht für B bis Z entschieden hast. Das Band der fast schon faschistoiden Gesetzlichkeit flattere heute über Biomärkten, rauchfreien Eckkneipen und veganen Bistros. All die geschrieben und ungeschrieben Gesetze trieben den Menschen in einen quälenden Rechtfertigungsdruck. Seit die Kirche die Deutungshoheit verloren habe, müsse sich der moderne Mensch selbst verdammen, erlösen, verurteilen, freisprechen. Das wiederum führe in eine egomanische Bindungsunfähigkeit. Jeder drehe um sich selbst als Zentrum – in vollster Verzweiflung und Getriebensein. Selbst auf Friedhöfen (Malessa wohnt nebst Gattin gegenüber einem solchen) würden heute bei nichtkirchlichen Beerdigungen Hymnen der Selbstrechtfertigungen abgespielt: I did it my way – simply the best – je ne regriette rien! Das sola gratia treffe also befreiend auf Menschen, die gefangen sind in einem verzweifelnden Zyklus aus Selbstrechtfertigung, -verdammung, -bewertung, -erlösung durch richtiges Verhalten. Sola gratia bedeute also heute: Entschulden und befreien kann dich nur Christus! Wenn du vor ihm auf die Knie gehst, kann dich nichts anderes mehr auf die Knie zwingen!
Ich atme einmal tief durch und staune. So aktuell und befreiend kann heute das sola gratia wirken. So relevant ist es! Nachdenklich schluffe ich zum Strand und lasse den Brühwürfel im Mund zergehen … und Andreas Malessa? Er hat seinen Auftrag wunderbar erfüllt. Danke vielmals!

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