Kleines Weihnachtsgeschenk: Mein Artikel über Reife und wie sie gelingt aus der aktuellen MOVO

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen MOVO – dem Magazin für Männer (www.movo.net). Frauen dürfen ihn aber genauso auf sich beziehen – das tut sich sicher nicht viel….;-)

movo_cover-897x1030.pngFrühmorgens auf der Veranda in Sardinien, Sommerurlaub, die Familie schläft, noch sind die Temperaturen unter 25 Grad, vom Vorabend ziert eine halb geleerte Flasche sardischen Weins den Tisch. Noch zwei Tage dieses herrlichen Urlaubs, dann geht es auf die Heimfahrt mit Fähre und Nachtfahrt über Frankfurt nach Gera. Mein Hirn rattert bereits auf Hochtouren, wie die Fahrt zu gestalten ist, was danach kommt, Herausforderungen, erste Schritte zurück in der Arbeit, den Umzug meines Sohnes nach Gera vorbereiten und weiter und weiter und weiter tragen die Gedanken in die Zukunft, manchmal froh, manchmal sorgenvoll umwölkt…

Der Schrei einer Möwe holt mich zurück in den Gegenwart, ich atme tief durch, strecke meine schlafmüden Glieder und bete. Spüre. Nehme das Sakrament, das heilige Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks wahr. Bald werde ich 51 Jahre alt. Was bedeutet es, mitten im Leben über die Reife des Manns nachzudenken, über meine Reife? Ich schaue auf das Meer, den Wein, spüre die laue Morgenluft, meine müden Glieder und den gerade noch warmen Kaffee in meinem Mund und die Bilder beginnen sich zu entwickeln.

Reden wir nicht über Klischees. Was bedeutet Mannsein? Für manche (längst nicht für alle) verbindet sich damit der „Eldredge-Weg“ des kernigen, holzfällenden Wildnismannes. Der Weg in die Auseinandersetzung mit der Einsamkeit und der Begegnung mit den eigenen Grenzen. Andere können gerade mit dieser Art Mannsein nichts anfangen. Und doch steckt da eine Menge Wahres drin. Schauen wir einmal genauer hin – für alle Typen von Männern. Initiation braucht der Mann – eigentlich als Junge, heute meistens als reiferer Mann, der (endlich) hinter seine Fassaden schaut und den kleinen verzagten Jungen in sich entdeckt. Initiation bedeutet Reifung, Mannwerdung durch ein Ritual, durch einen Übergang. Meist am Beginn der Pubertät. Wir Menschen aus den Industrienationen haben aus diesem wichtigen Moment des Mannes ein zahnloses, verkopftes Etwas gemacht, einen müden Abklatsch. Man verzeihe mir dieses harsche Urteil in diesem Kontext, aber Konfirmation, Firmung, Entlassung aus dem biblischen Unterricht, Jugendweihe – all das sind letztlich nur hilflose Versuche, ein Übergangsritual für den Jungen zu schaffen, das aber längst nicht die Qualität der Initiation erreicht. Ein Vater geht mit seinem Sohn in die Einsamkeit und lehrt ihn erfahrbar, was es bedeutet, Kontrolle zu verlieren, an die Grenzen zu gehen, demütig zu werden, sich selbst und dem Wilden zu begegnen, zu weinen, zu kämpfen, Gott zu spüren! Jungs brauchen das (Mädchen auf gewisse Weise auch, aber anders).

Vorbei. Die meisten von uns haben das nicht erlebt. Müssen wir es nachahmen? Müssen wir uns das Flanellhemd überstreifen und durch die Pampa Schwedens wandern und uns 10 Tage nicht waschen? Ich glaube daran, dass solche Rituale auch Erwachsenen helfen können, aber nicht weil sie magisch sind, sondern weil sie Dinge spürbar und erfahrbar lehren, die als Reifungsprinzipiem dahinter stehen. Diese Prinzipien bewegen mich. Weil sie uns Männern in unserer Unterschiedlichkeit gerecht werden. Egal ob wir eher Machos oder Softies sind, eher handfest oder intellektuell sind, eher die Kämpfer oder eher die Ruhigen – wenn wir diese Kategorien noch bemühen müssen (am Ende des Durchlebens dieser Prinzipien werden sie egal sein). Welche Prinzipien meine ich in meinem Leben, im Leben von Jesus, im Männerleben zu entdecken, die uns auf dem Weg der Reife unausweichlich begleiten? Jesus definiert sie in seinem Gleichnis vom Weinstock und den Reben. Er selbst durchlebt sie in faszinierender, schmerzhafter und komprimierter Weise innerhalb von wenigen Jahren. Sie sind die Wegbegleiter der Reife. Ein Geheimnis, das sich vor unseren Augen enthüllt.

1. Es geht nicht um mich.
Wir sind nicht der Weinstock, die Pflanze. Nicht die Wurzel, wir sind nicht Ursprung und Schöpfer, sondern Frucht. Wir sind und dürfen Weinrebe sein. So wichtig der Entdeckergeist und das Einnehmen neuer Lebensländer auch ist – gerade in jungen Jahren – es geht nicht um uns. Es geht um Gott. Um den, der uns trägt, hält, bewegt, atmen lässt, mit Kraft versorgt. Uns selbst zu entdecken wird nur gelingen, wenn wir uns selbst verlieren. Nicht zu wichtig nehmen. Wir sind wichtig – ohne uns Reben keine Frucht (wie verwegen von Gott uns diese Aufgabe anzuvertrauen!). Aber wir können eben aus uns heraus all das nicht! Das fällt schwer anzunehmen, wenn man kraftstrotzend in den Zwanzigern das Leben einnimmt und auch einnehmen soll. Eine gute Reifung wird das vermitteln: Es geht nicht um dich. Du bist eingebettet, Teil eines Größeren. Mich beruhigt und beunruhigt das gleichzeitig. Ich fühle mich geborgen, aber auch… unwichtiger? Etwas verlorener? Ich entdecke im Wahrnehmen, dass ich wichtig sein möchte, Spuren hinterlassen will, etwas bewegen will. Gott freut sich daran. Aber wenn ich meinen Wert und meine Identität daran befestige, dann versklave ich mich und das will und muss der Vater in seiner Liebe verhindern. Geschöpfsein anzunehmen, Rebesein anzunehmen, das demütigt mich hinein in die Freiheit des Kindes Gottes. Dieses Spannungsfeld aus Einnehmen dürfen und doch nur Rebe sein gilt es immer wieder neu zu leben. Darin findet Reifung statt. Die Würde der Weinrebe annehmen und gleichzeitig die Anmaßung, Weinstock sein zu wollen, zu verweigern…

2. Mein falsches Selbst muss dem neuen Platz machen.
Falsches Selbst? Das ist unser Ego. Das, was sich an automatisierten Verhaltens-, Denk- und Emotionsmustern in uns eingebrannt hat durch Prägungen, Traumata, durch Schuld anderer an uns und eigene Schuld. Mit jedem Lebensjahr mehr erkenne ich, wie oft ich auf Autopilot laufe. Bestimmte Gefühle und Reaktionen werden angestoßen und laufen wie automatisiert an. Das kann unendlich müde machen und frustrieren. Denn ist dann überhaupt noch Veränderung möglich? Eine ganze Ratgeberindustrie beschäftigt sich damit, wie ich mich verändern kann und soll. Und immer neue Bücher belegen die Hilflosigkeit der alten Bücher. Das Gleichnis von Jesus macht deutlich: Das falsche Selbst muss und darf weniger werden, um dem neuen Selbst, das Gott in uns angelegt hat Raum zu geben. Dieses ist aber nicht unsere Aufgabe als Rebe. Wie viele Predigten haben genau das vermittelt: Sich ich selbst zu kasteien, ja zu hassen, wo wir noch sündigen. Als Weinrebe überlasse ich aber diesen Prozess Gott. Dem Vater. Dem Weingärtner. Er kennt das Thema, den Ort im Herzen, den Zeitpunkt und das Maß exakter als wir selbst. Er wird zur richtigen Zeit das Richtige tun, damit wir luftiger werden, Raum gewinnen, wachsen können, Frucht prall, süß und reif wird. Unsere Aufgabe ist Hingabe. In Spiritualität, Seelsorge, Zweierschaft in Offenheit und Transparenz – kurz: Gott ran zu lassen auf alle möglichen Weisen. Was für eine Befreiung, aber auch was für eine Demütigung. Es gibt Dinge, die ich loswerden soll, die absterben müssen. Nicht weil Gott sie hasst, nicht weil sie schlimm sind und Gott sich an ihnen stört (auch dieses falsche Selbst hat seine Macht am Kreuz verloren), sondern weil sie uns behindern und er uns liebt. Deswegen will er Befreiung und Verwandlung. Weniger altes Selbst, mehr Raum für das neue Selbst.

3. Loslassen, Kontrolle abgeben und vertrauen lernen.
Sich dem Prozess des Gärtners auszusetzen, verlangt von uns Männern etwas, das uns sehr schwer fällt: Kontrolle loszulassen. Dieses Loslassen führt übrigens nicht in eine gleichgültige Passivität. So kennen wir sie vielleicht aus dem Buddhismus. Loslassen bedeutet ja: Gott machen lassen. Er will für uns kämpfen, uns verwandeln, in uns groß werden, uns zur Reife führen. Einfach aus Liebe. Unsere umklammernden Hände, die selber anpacken wollen sind eines der größten Hindernisse auf diesem Weg. Wir können nur empfangen, wenn wir die Umklammerung lösen und Kontrolle abgeben. Kontrolle fühlt sich aber männlich an! Dabei ist sie oft nur das Ergebnis eines verletzten Egos. Kontrolle soll unser Leben sicherer machen, Schmerz verhindern und so gute Gefühle erzeugen. Es geht wieder – um uns. Falsches Selbst. Vollkommen verständlich dieses Verhalten. Ein Junge, der in unsicheren Verhältnissen aufgewachsen ist, muss sich Kontrolle antrainieren, um Halt zu finden und schmerzhafte Ereignisse zu minimieren. Ein simpler, aber effektiver Überlebensmechanismus unseres kindlichen Herzens, von Gott eingesetzt, um unser Überleben in einer gefallenen Welt zu ermöglichen. Kontrollmechanismen hat sich fast jeder Junge antrainiert. Oder aber eben das Gegenteil: Lethargie und Resignation. Wenn ich nichts anpacke, kann nichts schief gehen und dann muss ich auch keine negativen Konsequenzen tragen. Egal wie: Es geht um eine Kontrollthematik. Loslassen an Gott – eine wichtige Haltung auf dem Heilungs- und Reifungsweg.

4. Es geht nicht um Erfolg, sondern um Frucht.
Männer denken an Erfolg. Das muss so sein – das darf so sein. Wer möchte schon scheitern! Doch das, was Jesus hier anbietet ist etwas gänzlich Anderes, Neues: Frucht. Frucht wächst von selbst, nicht kontrollierbar von der Pflanze. Sie ist Geschenk. Wir können sie fördern und verhindern, aber nicht „machen“. Lass diesen Gedanken bitte in deinem Herzen sacken und schau, was er bewirkt. Bei mir hat er schon vor einiger Zeit eine kleine heilsame Explosion ausgelöst, deren Wellen immer noch wohltuend nachwirken.

5. Meine eigentliche Kraft kommt nicht aus mir selbst.
Kraft lässt nach. Egal wie fit wir uns halten. Egal wieviel Sport wir treiben. Eine Nacht durchmachen? Nicht mehr so einfach mit 30 wie mit 20 Jahren. Und erst Recht nicht mit 50. Es ist immer noch viel möglich, aber anders. Wie gut. Denn die alles durchströmende Kraft der Auferstehung, die Kraft, die das Universum geschaffen hat, diese Kraft durchströmt uns von den Wurzeln her. Das ist das, was Jesus hier sagen will. Warum versuchen wir es selbst „zu reißen“? Aus eigenen Quellen zu schöpfen, die doch von Jahr zu Jahr mehr zu rissigen Zisternen werden.
Eine wichtige Haltung der Reifung ist, der Kraft Gottes Raum zu geben. Dieses Geheimnis ermöglicht biblischen Personen, bis ins hohe Alter Phantastisches zu erleben und zu bewirken – aber nicht aus eigener Kraft!
Was ist unsere Aufgabe dabei? Die Weinrebe reckt sich der Sonne entgegen, braucht die Photosynthese, Luft, Sonne, Wasser – erst diese Kombination ermöglicht es der Lebenskraft, von den Wurzeln her aufzusteigen. Unsere Aufgabe ist es also, dass wir uns Gott liebend hinhalten, ihn aufnehmen, seine Gegenwart aufsaugen, genießen. Vollkommen unverzweckt. Nicht „um zu“. Sondern einfach so. Dann wird die göttliche Kraft steigen. Die zweite Aufgabe wäre die bewusste Hinwendung zur Kraft Gottes in einzelnen Situationen. „Nicht meine Kraft geschehe – deine Kraft!“ Dieses kurze Gebet ist eine Möglichkeit, diese Hinwendung Tag für Tag mehrfach einzuüben.

6. Vom Ergebnis her denken.
Ein Weinberg im Frühling? Unscheinbar. Winzig kleine grüne Knubbel sollen eines Tages prächtige Trauben werden. Aber im Frühjahr? Bestenfalls eine müde Vorahnung dessen, was im Herbst kommen soll. Andauernde Reflexion über das, was man selbst ist, stellt das falsche Selbst in den Mittelpunkt und lässt verzagen. Oft erlebt man das bei Freunden, die man zwei Jahre nicht gesehen hat – plötzlich fallen sie auf, die kleinen Veränderungen. Im Guten wie im Schlechten. Das Gleichnis vom Weinstock und den Reben lädt uns ein, vom Sieg, vom Herbst, von der Frucht her zu denken und zu leben. Der Blick ins eigene Herz ist natürlich wichtig und erlaubt, doch nur um zu schauen, was es Gott hinzuhalten gilt. Wenn es uns verzagt, gilt es erneut auf die Frucht und das Ende zu schauen. Und das heißt: Sieg. Auferstehung. Alles wird gut, wenn du Rebe bist. Eine wohltuende Form der Selbstvergessenheit.

Jesus hat diese sechs Haltungen selbst durchlebt. Er hat von sich weg auf den Vater gewiesen und nicht sich selbst in den Mittelpunkt gestellt. Er „entäußerte sich selbst“ (Phil 2,7) und ließ alles los, was seine ursprüngliche Identität ausmachte und wurde Mann. Er ließ selbst kurz vor dem Sterben sein Ich, seine Sehnsüchte bewusst los und vertraute die Kontrolle dem Vater an. Er schaute nicht auf Erfolg bei den Menschen, sondern auf Frucht für seinen Vater. Er tat, was er tun musste und sollte. Dabei schuf er Unglaubliches in kurzer Zeit – aber nicht aus sich selbst heraus. Jesus tat nur, was er seinen Vater tun sah. Und er hatte das Ende, den Sieg vor Augen. So konnte er sich loslassen in den Tod – weil er um die Auferstehung wusste. Machte es den Weg einfacher? Nein. Aber gangbar.

Reife als Mann? Sei Weinrebe. Und so verschieden Weine sind zwischen Riesling und Cabernet, so verschieden sind wir Männer. Aber wir teilen den Weg der Reifung. Jesus ist ihn voran gegangen. Zum ganzen Mann.

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